Sicherheitspolitik – wo beginnen?

In der schweizerischen Sicherheitsdebatte klaffen rechtliche und politische Realität immer weiter auseinander. Nötig wäre eine Klärung der Grundsatzfrage, ob die Schweiz Lösungen erarbeiten will und kann, die der gegenwärtigen Verfassung entsprechen, oder ob das Grundgesetz revidiert werden soll.

Von Carlo Jagmetti (Quelle: NZZ, 16. Juni 2011 – Hervorhebungen durch die Red.)

Die Wende von 1989 hat nicht nur Europa und die Welt verändert, sondern auch für die Schweiz eine neue Lage geschaffen – dies ist heute notorisch. Während viele Lebensgebiete durchaus erfolgreich mit den Veränderungen und der daraus folgenden Globalisierung zurechtkommen, herrscht Verunsicherung hinsichtlich unseres politischen Standpunktes und unserer Beziehungen mit dem Ausland. Da ist die Schweiz vor allem mit drei Herausforderungen konfrontiert: die Beziehungen mit der Europäischen Union, das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika und die Sicherheit. Die drei Problemkreise sind eng verquickt, was die Suche nach Lösungen kompliziert.

Grundprinzipien in Frage gestellt
Die Sicherheitspolitik der Schweiz ist seit Jahren Gegenstand vieler Debatten und zahlreicher Publikationen. Der Sicherheitspolitische Bericht, der Armeebericht und Publikationen wie zum Beispiel der kürzlich erschienene Bericht von Avenir Suisse heizen die Diskussion an. Vielerorts herrscht Skepsis. Das ist eine logische Folge der vielen gegensätzlichen Darstellungen, von Kehrtwendungen, mitunter von Demagogie und von behördlicher Manipulation durch «Spin Doctors». Gewisse Grundprinzipien wie allgemeine Wehrpflicht und Milizsystem werden in Frage gestellt. Die Nützlichkeit des völkerrechtlichen Instrumentes der Neutralität wird angezweifelt. Dies alles geschieht vor dem Hintergrund einer erst zwölfjährigen neuen Bundesverfassung, die alle diese Grundsätze ausdrücklich festschreibt.

In der erwähnten Studie von Avenir Suisse wird ein als «Weiterentwicklung der Sicherheit durch Kooperation» bezeichnetes Modell unter anderem mit «modifizierter Neutralität» empfohlen. Wenn man von einer rein rechtlichen Betrachtung ausgeht, sollte es eigentlich nur eine mit der gegenwärtigen Verfassung wirklich vereinbare Lösung geben, die mit den aussenpolitischen Grundsätzen übereinstimmt und dem Verfassungsauftrag entspricht. Der heutige Ist-Zustand weicht bereits von der Verfassung ab, indem die Armee den Verfassungsauftrag nicht erfüllen kann und die Konzeption der Auslandeinsätze neutralitätsrechtlich zumindest fragwürdig und mit einer glaubwürdigen Neutralitätspolitik nicht vereinbar ist. A fortiori stehen alle noch weitergehenden Modelle im Widerspruch zu gewissen Vorschriften der gegenwärtigen Bundesverfassung. Verfassungsrechtliche und politische Realität klaffen immer mehr auseinander. Es wird sich zeigen, welche sich der andern anpasst. Die Versuche von Behörden, Verwaltung, Medien, Experten, mit extensiven Auslegungen dem Sinn der Verfassung auszuweichen, helfen nicht weiter. Eine verwässernde Interpretation der Verfassung ist in einem Rechtsstaat nicht tolerierbar. Besonders von offizieller Seite darf dem Souverän nichts vorgegaukelt werden, wie etwa dahingehend, dass man zur Gewährleistung der eigenen Sicherheit mit einer Mini-Armee in internationalen Strukturen mitmachen müsste, dass solches mit all unseren Grundsätzen vereinbar wäre und dass damit unsere Sicherheit am besten gewährleistet würde, in der unheimlichen Illusion, dass einer unserer Nachbarstaaten oder gar die USA uns in einer kritischen Situation helfen würden.

Nato-Mitgliedschaft als Option?
Also müsste man eigentlich zurückbuchstabieren zu einem vom Ausland unabhängigen Sicherheitskonzept mit Ausnahme der in früherem Masse gepflegten Zusammenarbeit in Nachrichten-, Ausbildungs- und Rüstungsfragen. Wer solches Zurückbuchstabieren fordert, mag als realitätsfremd erscheinen. Theoretisch ist eine solche Lösung aber an sich durchaus denkbar, allerdings nur, sofern die dafür nötigen und zweifellos bedeutenden menschlichen und materiellen Ressourcen bereitgestellt werden. Wenn man eine solche Lösung ausschliesst, bleibt bei ehrlicher Betrachtung nur die Möglichkeit übrig, unsere Bundesverfassung zu revidieren, einige unserer Grundwerte aufzugeben und damit die Grundlage zu schaffen zum Mitmachen als Vollmitglied in einer Militärallianz. Alles, was sich zwischen den zwei Extremlösungen bewegen sollte, wäre auch nur mit einer entsprechenden Verfassungsänderung möglich und würde zudem sicherheitspolitisch kaum weiterhelfen.

Das gegenwärtige Allianzsystem der Nato steht und fällt mit der Leistungsbereitschaft der Supermacht USA. Rein europäische Konzepte in überzeugender Dimension wird es wohl – wenn überhaupt – höchstens in späterer Zukunft geben (wie weit ist denn die gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik der EU gediehen?). Ein Beitritt zur Europäischen Union würde der Schweiz sicherheitspolitisch auf absehbare Zeit nichts bringen. Wenn sich die Schweiz einer Allianz anschliessen möchte, käme realistischerweise somit nur die Nato in Frage. Mit einem Nato-Beitritt würde sich die Schweiz also in die direkte Abhängigkeit der USA begeben und hätte in der Paktorganisation als kleines Land mit wenigen militärischen Mitteln hinter den grösseren europäischen Nato-Partnern, unter denen sich zwei Atommächte befinden, zurückzustehen und kaum etwas mitzubestimmen. Die Frage, wie viel Sicherheit eine Nato-Mitgliedschaft der Schweiz bescheren würde, kann wohl niemand beantworten.

Seit Einführung der Armee XXI und den nachfolgenden Schritten befindet sich die Schweiz auf unsicherem Terrain. Die sicherheitspolitische Lage ist beunruhigend. Mit den Grundsatzfragen beschäftigt man sich hohen Orts zu wenig.

De quoi s’agit-il? Bevor man sich in sicherheitspolitischen und andern staatspolitisch relevanten Belangen festlegt, sollte man sich bemühen, die Grundsatzfrage zu beantworten, ob die Schweiz Lösungen erarbeiten will und kann, die der gegenwärtigen Verfassung entsprechen, oder ob das Grundgesetz in ganz wesentlichen Punkten revidiert werden soll, um adäquate Lösungen zu finden. Der Souverän ist angesprochen.

Carlo Jagmetti war unter anderem Chef der Schweizer EU-Vertretung in Brüssel und Botschafter in Paris und Washington.

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